Aus der Reihe Sommerinterviews: Fehlen bei uns auch so viele Kinderärzte?
„Fehlen bei uns auch so viele Kinderärzte?“
Diese Frage stellte SPD-Vorsitzender Tony Gugenheimer. „Auch bei anderen Fachrichtungen ist die Versorgung nicht bedarfsgerecht“, sagt dazu Norbert Eckhardt, Hausarzt und SPD-Ratsmitglied in Neu Wulmstorf.
Tony: Ich lese derzeit in den Medien, dass die Versorgung mit Kinderärzten zu wünschen übriglässt, um es mal neutral auszudrücken. Sind wir auch davon betroffen?
Norbert: Das kann man sich leicht ausrechnen. In 2021 ermittelte die Kassenärztliche Vereinigung Lüneburg (KVL) 15,5 niedergelassene Kinderärzt*innen im Landkreis. Laut Bedarfsplanung sollen für 2.911 Kinder ein Kinderarzt vorhanden sein. Das entsprach offiziell einem Versorgungsgrad von 113 Prozent. Damit ist der Landkreis offiziell Überversorgt. Diese Bemessungszahlen sind allerdings nie ein Qualitätsindikator gewesen, sondern sind durch Einfrieren der Arzt/Ärztinnen-Zahlen bei Einführung Anfang der neunziger Jahre als ein Instrument der Kostendämpfung festgelegt worden. Eltern, die einen Kinderarzttermin für ihr Kind brauchen und keinen finden, merken schnell, dass die Bemessungszahlen, die über die Jahre nur gering angepasst wurden, für die heutige Zeit nicht mehr stimmen können.
Tony: Warum das?
Norbert: Inzwischen ist die Inanspruchnahme zum Beispiel bei Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen deutlich gestiegen. Eltern achten heute allgemein mehr auf die Gesundheit ihrer Kinder. Die psychische Gesundheit der Kinder ist seit Corona stärker beeinträchtigt. Und natürlich ist heute medizinisch viel mehr möglich als vor fünfzig Jahren. Das braucht Kapazitäten in den Praxen.
Tony: Du bist ja praktizierender Hausarzt hier in der Region. Was ist denn dazu deine Meinung?
Norbert: Gerade die Hausärzte-Versorgung ist gefährdet. Im Landkreis Harburg fehlen seit Jahren im Schnitt 20 Hausärzte und Hausärztinnen. Das merken wir in Neu Wulmstorf nicht so deutlich. Neu Wulmstorf ist für niedergelassene Ärzt*innen attraktiv und wir haben gemessen an den Bemessungszahlen eine nahezu Vollversorgung. Aber in den ländlichen Teilen des Landkreises ist das anders.
Tony: Dagegen könnte man doch etwas tun, nicht wahr?
Norbert: Zunächst einmal wird die Situation nochmals schlechter. Denn ein großer Anteil der niedergelassenen Ärzte ist im rentennahen Alter und scheidet in den nächsten Jahren aus. 2021 waren 13 Prozent der Hausärzte im Landkreis über 63 Jahre alt. Bei den Kinderärzten waren es circa 20 Prozent. Und entsprechender Nachwuchs ist nicht in ausreichendem Umfang vorhanden. Es gibt jetzt zwar Förderprogramme. Der Landkreis Harburg ist dabei auch recht erfolgreich. Das reicht aber nicht, um die Lücken zu füllen.
Tony: Das sind keine guten Aussichten, oder?
Norbert: In circa 15-20 Jahren wird es wohl wieder besser. Denn auch in der Gesundheitsversorgung spielt der sogenannte Baby-Boomer-Berg eine Rolle. Ältere Menschen haben einen relativ höheren Bedarf an Gesundheitsleistungen. Deshalb sollte die Bildungspolitik sich auch hüten, eine „Ärzteschwemme“ durch mehr Studienplätze zu erzeugen. Die ärztliche Ausbildung dauert bis zur Niederlassung wenigstens 11 Jahre.
Tony: Was sind denn die Prognosen, um die hausärztliche Versorgung sicherzustellen?
Norbert: Im Landkreis waren 2021 je nach Fachrichtung zwischen 10 und 25 Prozent der niedergelassen Ärrzt*innen über 63 Jahre alt. Wie das aktuell aussieht, weiß man in der Politik nicht. Aber für Niedersachsen gibt es allgemeine Berechnungen. Da wird für 2035 ein zusätzlicher Bedarf von circa 5.000 Hausärzt*en geschätzt. Laut kassenärztlicher Vereinigung Niedersachsen (KVN) werden wir aber nur über circa 3.750 zusätzliche Hausärzt*innen verfügen. Die Lücke bleibt also zumindest mittelfristig erhalten. Jede sechste Hausarztstelle wird nicht besetzt werden. Das betrifft 15 der 104 hausärztlichen Planungsbereiche, und wir werden dazugehören, sagt die KVN.
Tony: Wann ist denn so ein Hausarztbezirk unterversorgt? Und was heißt das für uns konkret?
Norbert: Erst wenn weniger als 75 Prozent der Arztsitze noch besetzt sind, spricht die offizielle Berechnung von einer Unterversorgung. Dann ist die KV verpflichtet, mit eigenen Einrichtungen die Versorgung zu gewährleisten. Man muss aber bedenken, dass auch für Hausärzte dasselbe gilt wie für die Kinderärzte: Die ärztlichen Leistungen sind mehr geworden. Hinzu kommt dann der höhere Bedarf der alternden Gesellschaft. Und die Bemessungszahlen der Hausärzte sind leider ebenfalls älter, nämlich von Anfang der neunziger Jahre.
Tony: Können wir politisch denn etwas daran verbessern?
Norbert: Die Regeln für die ärztliche Versorgung werden durch die Bundes- und Landespolitik gemacht. Die Rolle der Kommunalpolitik beschränkt sich leider auf die freiwillige Förderung. In Neu Wulmstorf wurden beispielsweise Praxisräume für die neuen Gebäude am Bahnhof mit eingeplant, die meines Wissens inzwischen auch alle besetzt sind. An den Bemessungszahlen der KVN ändert das aber nichts. Man betreibt da sozusagen „Kirchturmpolitik“, sieht also zu, besser versorgt zu sein als die anderen Gemeinden. Neu Wulmstorf ist für Ärzte attraktiv.
Tony: Und was hältst Du von den medizinischen Versorgungszentren (MVZ), von denen jetzt oft die Rede ist?
Norbert: Die MVZ in eigener Regie sind für Gemeinden keine gute Idee, weil ein Teil der Kosten dann bei diesen Gemeinden hängenbleibt. Und dieses Geld fehlt wie gesagt schon in der allgemein angespannten Finanzlage der Kommunen. Trotzdem wird es in ländlichen Regionen eine Lösung sein müssen, damit es überhaupt eine Versorgung gibt. Aber ich denke, nicht für uns.
Tony: Wir sind da also eher nicht in der Lage, tätig zu werden?
Norbert: Doch. Man könnte sich in Bezug auf die soziale Daseinsvorsorge neu positionieren, zum Beispiel mal Bedarfe ermitteln und schauen, an welchen Stellen es Nachbesserungsbedarf gibt, und zwar insbesondere über die alten Zahlen aus den Neunzigern hinaus.
Tony: Aber das ist derzeit ja keine Pflichtaufgabe der Kommunen.
Norbert: Ja, das müssen wir auch zur Kenntnis nehmen. Und wenn die Finanzen anderweitig gebunden sind, Neu Wulmstorf hat sich beispielsweise für die Investition in neue Schulen entschieden, dann fallen solche medizinischen Projekte dem eben zum Opfer. Wir müssen vermutlich, so wie bei den Kindergärten, darauf warten, dass der Gesetzgeber das kommunale Engagement im Gesundheitsbereich neu regelt.
Tony: Also es bleibt eine Menge offen. Vielen Dank für das Gespräch.